
Gaza ist das Warschauer Ghetto unseres Jahrhunderts
26. 7. 2025 / Fabiano Golgo
Es gibt Zeiten, in denen Euphemismus nicht nur Feigheit, sondern Komplizenschaft ist. Wenn einfache Worte gefährlich werden, ist das erste Opfer die Wahrheit. Nennen wir also die Dinge beim Namen: Gaza befindet sich nicht nur "in einer humanitären Krise", es steht auch nicht "am Rande einer Hungersnot". Gaza hungert. Nicht wegen Ernteausfällen. Nicht wegen des Zusammenbruchs der Wirtschaft. Gaza hungert, weil es hinter Mauern eingesperrt und dem Tod überlassen wurde.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Uwe Ladwig
Im Winter 1940 riegelten die
deutschen Behörden einen Teil Warschaus ab, zwängten
Hunderttausende Juden hinein und beraubten sie systematisch der
Mittel zum Überleben. Die Essenrationen lagen absichtlich unter der
Grenze des Lebensnotwendigen. Das Ghetto wurde versiegelt. Krankheit
und Hunger waren keine Nebenwirkungen, sondern Werkzeuge. Die Welt
wusste es – und wandte die Augen größtenteils ab.
Im
Sommer 2025 leben mehr als zwei Millionen Palästinenser hinter den
Zäunen und Mauern des Gazastreifens, einer Fläche von der Größe
Brüssels. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge oder deren
Nachkommen. Sie können nicht weggehen. Sie können Waren nicht frei
importieren. Sie dürfen nicht im Meer fischen, Israel hat es ihnen
verboten und verhaftet jeden, der mit einem Fischerboot aufs Meer
hinausfährt. Die Stromversorgung schwabkt. Das Wasser ist meist
nicht trinkbar. Es fehlen Medikamente. Lebensmittel werden
zurückgehalten. Kinder verkümmern, ihre Körper sind knochig und
zerbrechlich. Die humanitären Helfer selbst fallen vor Hunger in
Ohnmacht. Und genau wie in Warschau wird auch hier den Menschen im
Inneren gesagt, dass sie an ihrer eigenen Zerstörung schuld
sind.
Doch die Architekten der Zerstörung leben heute
hinter Mauern.
Israel kontrolliert die Grenzen, den
Luftraum und die Küste des Gazastreifens. Es kontrolliert alle
Warenbewegungen. Er legt fest, welche Lkw passieren, welche
Lebensmittel "erlaubt" sind und wie viele Kalorien über
die Grenze gehen dürfen. Nach Angaben der Vereinten Nationen warten
mehr als 6.000 Lastwagen mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten
in Ägypten und Jordanien auf die Genehmigung. Sie sind keine Opfer
der Logistik oder des Zufalls. Sie sind Gefangene von
Entscheidungen.
So wie die Nazis den Judenrat zu einer
demütigenden Zusammenarbeit zwangen, wird die UNO nun dazu gedrängt,
innerhalb des von Israel entworfenen humanitären Systems zu agieren
– ein System, das Lebensmitteldepots in Kampfgebieten platziert,
den Zugang zu sicheren Korridoren einschränkt und sich dann
"wundert", dass Menschen, die nach Nahrung suchen,
erschossen werden.
Das ist keine humanitäre Hilfe. Dies
ist eine Karikatur von ihr. Und die Welt schaut wieder woanders
hin.
In Warschau war der Hunger der Auftakt zur Endlösung.
In Gaza gibt es kein Konzentrationslager. Es gibt keinen Öfen. Aber
die Logik – die langsame, bürokratische Beeinträchtigung des
Lebens – ist erschreckend ähnlich. Die moderne Grausamkeit trägt
eine Uniform und ein Tablet. Sie spricht die Sprache der
Verordnungen: "Sicherheitsüberprüfungen", "Koordination
der Lieferungen", "alternative Verteilungsmechanismen".
Sie behauptet immer, sich nur selbst zu verteidigten
Und
doch sterben weiter Kinder.
Mit der totale Blockade, mit
der systematischen Leugnung und den Einsatz von Hungersnot als Waffe
erreicht Israel etwas, was zuvor einen offenen Krieg erforderte:
Menschen in Wracks zu wandeln In "wandelnden Toten", wie
sie selbst auch die humanitären Helfer nennen.
Wenn Gaza
nicht dem Namen nach ein Ghetto ist, dann ist es eines aufgrund der
Gegebenheiten. Es ist das Ergebnis einer Ideologie, die jeden
Palästinenser als potenziellen Feind ansieht, jedes Kind als
Bedrohung und jede Mutter als Kollateralschaden.
In
Amerika und Europa ist es heute in Mode, "übertriebene
Vergleiche" zu vermeiden. Man sagt, der Holocaust sei heilig –
man könne ihn nicht als Vergleich nutzen. Aber was heilig ist, muss
auch eine Warnung sein. Das Warschauer Ghetto war nicht nur ein
Verbrechen – es war ein Warnzeichen. Ein Hinweis darauf, was
geschieht, wenn eine Bevölkerung ausgeschaltet, dämonisiert und
ihres Lebens beraubt wird – nicht für das, was sie getan hat,
sondern für das, was sie ist.
Gaza mit Warschau zu
vergleichen, ist keine Verharmlosung der Geschichte. Es ist ein
Eingeständnis, dass wir nicht daraus gelernt haben. Wann wurde
das "Nie wieder" zu einer sinnlose Phrase? Wann verwandelte
sich unsere Trauer um die Toten in Gleichgültigkeit gegenüber den
Sterbenden?
Die Blockade des Gazastreifens muss beendet
werden. Sofort und ohne Bedingungen. Der Fluss von Lebensmitteln,
Wasser und Medikamenten darf nicht blockiert werden. Humanitäre
Helfer müssen geschützt und nicht zurückgehalten werden. Kinder
müssen gefüttert und nicht nach ihrem Tod fotografiert werden. Und
die Welt muss den Mut finden, zu sagen was ist: keine humanitäre
Krise, sondern vorsätzliches Aushungern.
In Gaza gibt es
keine Viehwaggons. Es gibt keine Gaskammern. Aber es gibt Mauern. Es
gibt Stacheldraht. Es gibt Rationierungen, die Einschränkung des
Lebens und eine Welt, die zuschaut – und diskutiert.
Die
wandelnden Toten von Gaza bitten nicht um unser Mitgefühl. Sie
fordern nach unserer Erinnerung. Sie fragen, ob die Geschichte,
die schon einmal angeklopft hat, wieder anklopfen muss.
Diskuse